Kürzlich war ich mit einem Manager aus einem in der Schweiz marktbestimmenden Technologie-Unternehmen beim Mittagessen. Wir sprachen über dieses und jenes. Über Sport, Ferienpläne, jüngste Erfolge, gemeinsame Bekannte, Entwicklungen in Markt und Wettbewerb. Ich kenne das berufliche Umfeld dieses Managers, relevante Personen und kulturelle Eckpfeiler im Unternehmen. Auch ihn kenne ich ein wenig, denn unsere Wege kreuzen sich schon seit etwa zehn Jahren immer wieder.
Nach etwa einer Stunde fühlte es sich für mich richtig an, eine persönliche Frage zu stellen: «Wie geht es Dir denn bei alledem?» Dieses gestandene Mannsbild, ein erfahrener Spezialist in vielen Fachthemen und mit beeindruckendem Werdegang schwieg. Dann blickte er mir mit seinen freundlichen Augen direkt in die Pupille und sagte: «Es fehlt an Wertschätzung.»
Wertschätzung als Mangelware
Es ist erschütternd, wie oft ich diese Diagnose höre oder aufgrund meiner Beobachtungen selbst treffen kann. Für fehlende Wertschätzung gibt es untrügliche Symptome.
Mir fällt ein mittelständisches Familienunternehmen ein, in dem der CEO und Enkelsohn des Gründers wenig Lust auf die Unternehmensführung hatte und kaum spürbar für die Mitarbeitenden war. Wenig Interesse, wenig Aufmerksamkeit, wenig Wertschätzung. Wenig Energie, wenig Motivation, wenig Einsatzbereitschaft bei den Mitarbeitenden.
Oder das Schweizer KMU, in dem der Patron regelmässig in Teammeetings und also vor versammelter Mannschaft seine Mitarbeitenden demütigte und attackierte. Keine Wertschätzung trotz teurer Weihnachtsfeiern. Hohe Fluktuation.
Auch im Banking – einer Industrie, die bekannt für hohe Saläre und Boni ist – ist die Bindung von Mitarbeitenden ans Unternehmen nicht nur von Geld abhängig. Warum gab es vor einigen Jahren so viele Skandale um von Mitarbeitenden verkaufte CDs mit Kundendaten? Ein Banker antwortete mir auf diese Frage: «Weil Grossbanken intern und extern zwar viel PR in eigener Sache machen, die Führungskräfte oft aber wenig Wertschätzung für Mitarbeitende zeigen – das ist nicht glaubwürdig und dann fehlt es eben auch an Loyalität der Mitarbeitenden für die Bank.»
Mehr als Belohnung und Lob
Wertschätzung ist mehr als interne «Awards», öffentliches Lob bei der Mitarbeiter-Veranstaltung oder Geschenke zum Jubiläum. Wertschätzung ist mehr als eine Bonuszahlung und etwas anderes als häufiges «Danke»-Sagen. Wertschätzung ist eine Haltung, mit der man dem Gegenüber auf Augenhöhe, mit Aufmerksamkeit, Wohlwollen und Zugewandtheit begegnet, auch wenn man nichts von ihm zu erwarten hat.
Wertschätzung ist nicht, wenn alle eMails im Unternehmen mit «Liebe/r..» anfangen, aber spürbar, wenn aufrichtig gelächelt, Interesse gezeigt und im Gespräch aufmerksam zugehört wird. Dauerhaft durchgehaltene Distanz passt nicht zu Wertschätzung. Eine Führungskraft, die keine Nähe zu Mitarbeitenden aufbauen kann, wird nicht als wertschätzend erlebt.
Auch die reine Anerkennung von Leistung ist noch keine Wertschätzung. Weil Wertschätzung ohne Vorleistung funktioniert. Es geht nicht darum, dass ein Mitarbeiter zuerst etwas gemacht haben muss, um sich Wertschätzung zu verdienen. Wertschätzung bringt entgegen, wer ein positives Menschenbild hat, wer Individualität respektiert und sein Gegenüber als wertvoll erachtet einfach schon aufgrund der Einzigartigkeit und der Besonderheit seiner Persönlichkeit.
Wertschätzung ist in jeder Hinsicht lohnend, denn sie macht das eigene Leben schöner und den Umgang mit anderen angenehmer. Und es ist die mit Abstand kosteneffizienteste Form der Mitarbeiterbindung.
Wertschätzung üben
Warum also nicht mal üben, Wertschätzung entstehen zu lassen und auch zu zeigen? Im Kern geht es um Wahrnehmung und den Ausdruck davon. Mal ganz praktisch:
- Denken Sie bitte jetzt an das Schöne, Gute und Wichtige in Ihrem Leben. Lassen Sie Ihre Gedanken kreisen und schöpfen Sie aus der Fülle Ihrer Erfahrungen. Aus allen Lebensbereichen. Denken Sie an all das, was Sie mögen, schätzen, wofür Sie dankbar sind, was Sie begeistert, inspiriert und interessiert.
- Wählen Sie die drei stärksten Gründe dafür, dass Sie diese Gefühle haben, dass Sie etwas mögen, schätzen, gut und interessant finden in Ihrem Leben. Ja genau – diese drei. Wunderbar. Sie sind in einer guten Lage. Das sind wirklich wertvolle Dinge im Leben. Und Sie erkennen sie. Auch das ist wertvoll.
- Denken Sie jetzt an einen Menschen, mit dem Sie den Umgang nicht immer einfach finden. Der Ihnen irgendwie egal ist oder sogar unsympathisch. Setzen Sie die Brille auf, durch die Sie gerade auf Ihr Leben geschaut haben. Finden Sie jetzt mindestens drei positive Aspekte an dieser Person. Wie er oder sie sich gegenüber anderen verhält, welche im Grunde guten Absichten diese Person verfolgt, wie sie mit Niederlagen umgeht, wie sie Freude teilt, wofür sie sich engagiert. Sehen Sie – da sind tatsächlich einige Aspekte der Persönlichkeit, die wert sind gesehen zu werden.
Sie werden dieser Person anders begegnen. Weil Sie nun auch wahrnehmen, was Wertschätzung verdient. Und diese Person wird Ihnen anders begegnen. Weil die Freundlichkeit und Anerkennung, der Respekt, kurzum: die Wertschätzung, mit der man andere behandelt, zurückgegeben wird. Eine Win-Win-Situation für alle, ein Schlüssel im Konfliktmanagement und die Basis eines guten Umgangs miteinander, nicht nur am Arbeitsplatz.
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Bildquelle: www.gograph.com