Veränderungsmut ist der Anfang jeder Transformation. Veränderungsmut bedeutet: das System zu stören und die Konsequenzen zu tragen.
Vor einiger Zeit teilte mir ein von mir sehr wertgeschätzter Kunde und Wegbegleiter mit, dass er seine Stelle bei einem namhaften Schweizer Unternehmen gekündigt hat. Er war dort Strategie-Chef und für zentrale Transformationsprojekte zuständig. Er hatte zum Zeitpunkt der Kündigung noch keine neue Stelle. Ich war beeindruckt von seinem Mut und seiner Konsequenz.
Seinen Schritt hat er damit begründet, dass aus seiner Sicht wichtige Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Tätigkeit in seinem Verantwortungsbereich gefehlt hätten. Fachlich ist er ein Profi, der weiss, wie er Themen angeht, Projekte aufsetzt und auch schwierige Umsetzungsthemen in eine Organisation trägt. Trotzdem konnte er offenbar nicht seine volle Wirksamkeit entfalten. Es kommt nicht nur darauf an, was eine Person einbringt, sondern auch darauf, ob der Boden dafür bereitet ist. Es kommt darauf an, ob Vorgesetzte Veränderungsmut haben.
Der Vorgang lässt mich darüber nachdenken, womit Unternehmen und Personen konfrontiert sind, wenn sie am Beginn einer grundlegenden Transformation stehen. Bevor die Zahnräder ineinandergreifen, ist normalerweise zunächst Sand im Getriebe.
Wenn der Stärkere siegt…
Das lässt mich daran denken, wie es ist, wenn der Fall ganz anders gelagert ist: wenn nicht der Arbeitnehmer, sondern der Arbeitgeber ein Angestelltenverhältnis beendet. Interessant ist, wie eine Trennung begründet wird und das hängt logischerweise davon ab, wer die Interpretationshoheit hat, der Arbeitgeber oder der Arbeitnehmer. Der Veränderungsmut des Individuums kann die Rache des Systems nach sich ziehen.
Wenn ein Geschäftsleitungsmitglied entlassen wird, dann ist in Medienmitteilungen und in der internen Kommunikation manchmal die Rede von «unüberbrückbaren Differenzen über die Führung des Unternehmens». Was bedeutet, dass man im Top-Team ergebnislos um Konsens gerungen hat, einander einfach nicht verstanden oder regelrecht gestritten hat. «So geht’s nicht weiter», hat dann schlussendlich der Vorgesetzte gefunden und die Person, mit der es schwierig war, aus der Organisation entfernt.
Damit kehrt wieder Ruhe ein. Und Einigkeit im Verständnis und in der Deutung von Situation und Zielen. Ist das gut? Vielleicht. Für die, welche bleiben, ist es weniger anstrengend. Und wenn die Person, der gekündigt wurde, nicht konsensfähig war oder illoyal zur Führung und/oder zum Unternehmen, dann ist es gut, wenn die Grenze markiert ist, ab der unkonstruktives Verhalten nicht mehr geduldet wird.
Aber insgesamt, das zeigen viele Studien, sind homogene Führungsteams weniger gut für’s Unternehmen als durchmischte, in denen mehr um den richtigen Entscheid gerungen wird (Grundprinzip von «Diversity»).
Das Mott sollte nicht sein: «Please do not disturb», sondern: «Please disturb».
…oder der Klügere nachgibt
Der Fall, der mich Nachdenken gebracht hat, war anders gelagert. Es ist jemand gegangen, der hätte bleiben können. Eine Führungskraft, die die Organisation verändern wollte. Damit fällt im System eine Irritation weg. Kein Change ohne Störung des Systems. Wenn das an einer Person hängt, ist es zu wenig. Die Störung muss mindestens in der obersten Führung gewollt sein. Sonst kommt weder die für ein Change-Projekt zuständige Person weiter, noch das Unternehmen.
Nach dem Weggang eines mehr oder weniger isolierten Change-Treibers schnellt ein System wie ein vorher überdehntes Gummiband in den Ausgangszustand zurück. Nichts wird wirklich besser, weil nichts anders wird. Für den, der geht, ist es unter’m Strich besser, denn wo die Energie der Organisation nicht hingeht, wäre er auf verlorenem Posten gewesen. In gewisser Weise ist es so, dass der Klügere nachgibt. Hat der Stärkere gesiegt? Nur wenn das System aus dem Vorgang lernt.
Turkeys don’t vote for christmas
In einer wirklich grundlegenden Unternehmenstransformation müssen viele Muster und Routinen «gechanged» werden. Was lange richtig war, ist plötzlich nicht mehr zielführend. Der oberste Chef oder die oberste Chefin muss das wollen. Das Top-Team muss mitziehen. Führungskräfte und Mitarbeitende müssen sich darauf einlassen. Das katapultiert viele aus ihrer Komfortzone.
Richtig schwierig ist es, wenn der Entscheid für eine grundlegende Transformation in einem langjährig eingespielten Führungsteam fällt. Einfach deshalb, weil es ja selbstgemachte Muster sind, von denen sich ganz konkrete Menschen lösen müssen. Dabei geht es nicht selten für Einzelpersonen um existentielle Fragen: Verliere ich meine Machtposition? Bekomme ich einen neuen Chef? Bleibe ich einflussreich? Und wer will schon verlieren, was vorher errungen wurde?
Phasen der Veränderung steuern
Transformationsprozesse beginnen damit, dass es in der Unternehmensführung ein gemeinsames Verständnis vom Handlungsdruck gibt. Es folgt eine Phase, in der alle Weichen auf Befähigung gestellt werden müssen. Es kann sein, dass Organisationsstrukturen verändert werden müssen, damit Menschen im Sinne der Strategie zusammenarbeiten können. Oft gibt es personelle Veränderungen, Stellen werden anders besetzt. Mitarbeitende müssen geschult werden.
Die Startphase ist die Schlimmste. Weil hier auch Abschied genommen werden muss. Abschied von einem eingespielten Zustand. Das tut weh. Je schneller ein Unternehmen durch die Startphase kommt, je klarer der Handlungsdruck benannt wird, je beherzter notwendige Entscheidungen getroffen werden, umso schneller können gute Erfahrungen mit dem Neuen gesammelt werden. Wenn klar ist, dass es kein Zurück in die alte Welt gibt, dann beginnt das Ausprobieren, dann entstehen Quick-wins, dann geht es nach vorn und vor allem: dann treten Erfolge ein. Und nichts verbindet so sehr wie gemeinsamer Erfolg.
Veränderungsmut und Zumutung
Die Ziele von Veränderungsprojekten sind in aller Regel wichtig und richtig. Wir alle wissen: Das Problem ist der Weg dahin. Je bewusster, mutiger und systematischer die Transformation gesteuert wird, umso grösser ist die Chance, den Schmerz kurz zu halten und zügiger wieder produktiv zu werden.
Im Change-Management plant man «Interventionen». Lateinisch «intervenire» bedeutet: dazwischengehen. Interventionen sind Massnahmen, mit denen gezielt ins Geschehen eingegriffen wird, um das, was aktuell ist, durch das, was künftig sein soll, abzulösen.
Oder man setzt «Irritationen». Lateinisch «irritare» bedeutet: reizen. Irritationen sind im ersten Schritt nichts Positives. Irritationen durchbrechen Routinen. Sie stören, weil ab da Energie aufgewendet werden muss, um wieder in einen stabilen Zustand zu kommen.
Interventionen und Irritationen erfordern Veränderungsmut. Grundlegende Transformationen sind eine Zumutung. Für alle. Besonders für die oberste Führung, denn hier wurde ja so entschieden und gehandelt, dass der Zustand entstehen konnte, der im Change verändert werden soll. Zumutungen haben mit Mut zu tun. Mit dem Mut, dazwischenzugehen und Menschen zu reizen. Leider kommt es dabei immer wieder auch zu Verletzungen. Und es gibt Verlierer und Gewinner.
Wenn sich die Wege von Führungskräften und Unternehmen trennen, dann ist oft gar nicht so eindeutig zu sagen, wer Verlierer und wer Gewinner ist, wer der Stärkere und wer der Klügere. Persönlich denke ich, dass für eine Einzelperson einschneidende Erlebnisse, wie z.B. eine Kündigung, immer Anstoss zur individuellen Weiterentwicklung sind. Wo eine Tür zugeht, gehen andere Türen auf. Die Einzelperson erlebt den persönlichen Lernprozess im eigenen Rhythmus. Organisationen lernen langsamer und müssen meist sich mehr Irritationen und Interventionen zumuten, um die eigene Lernfähigkeit zu entwickeln.
Phasen der Veränderung
Die Grafik kombiniert das Modell der Trauerphasen nach Elisabeth Kübler-Ross (Kurve oben) mit den typischen Change-Phasen (Pfeile unten). Die Kurve zeigt die Befindlichkeiten und die Produktivität des Systems. Nach dem Schock folgen die Verarbeitung und dann die Leistungssteigerung.
Die blauen Schritte kann man planen. Dort liegt der Schlüssel, um unproduktive Phasen abzukürzen und aus der Veränderungsphase wieder in die Normalität zu kommen.
Weiterführende Links in diesem Zusammenhang
Bildquelle: www.gograph.com