Jeder Mensch hat ihn. Genau dort auf der Netzhaut, wo alle Zellen zusammenlaufen, die optische Reize verarbeiten, entsteht der Sehnerv. Er bündelt die Lichtrezeptoren, tritt aus dem Auge aus und verläuft Richtung Gehirn, wo die Lichtimpulse zu einem Bild verarbeitet werden. An dieser Stelle auf der Netzhaut, wo der Sehnerv beginnt, ist der blinde Fleck. Denn genau dort sind keine Lichtrezeptoren. Der Sehnerv beginnt, wo das Auge nichts sieht! Und jetzt das Beste: Man bemerkt nicht, dass da was fehlt. Die fehlende Information wird im Hirn durch Erinnerungsbilder ergänzt. In der Wahrnehmung ist das Bild komplett.

Projektergebnisse aus Sicht der Projektführung

Vor einiger Zeit erlebte ich in einem Projekt eine interessante Diskussion zu erreichten Ergebnissen und Ergebnissen, die vielleicht hätten erreicht werden können. Konkret ging es um ein Teilprojekt eines ziemlich wuchtigen Konzernprojekts. Ein kleines Team, insbesondere die Teilprojektleitung, hatte einige Monate lang schwer geackert. Gleichzeitig hatte der Programmleiter diesem Teilprojekt längere Zeit keine hohe Priorität eingeräumt. Im Eifer des Gefechts und angesichts der Fülle der operativen Aufgaben hatte er andere Prioritäten gesetzt. Er hatte sich längere Zeit nicht für die Projektergebnisse interessiert.

Nun stellte er – vielleicht insbesondere sich selbst – die Frage, ob dieses Teilprojekt nicht auch ganz anders hätten verlaufen können. Mit anderen Aktivitäten und anderen Resultaten. Er betonte dabei, er sei mit den Lieferergebnissen zufrieden. Das Teilprojekt hätte sein Möglichstes getan. Auch sei manches, was man vielleicht hätte machen können, hier nicht gewollt gewesen. So sei die Organisation eben. Manches ginge nicht. Die Frage sei für ihn, ob das Teilprojekt nicht doch irgendwie etwas von dem, was ja gar nicht gegangen wäre und auch nicht gewollt war, trotzdem hätten versuchen müssen.

Da gab es einen blinden Fleck. Denn im Grunde sprach er von seiner eigenen Verantwortung als Programmleiter. Er hatte Teilprojektstruktur und die Rollen im Teilprojekt definiert. Er hatte bewusst nicht definiert, wer im Teilpro­jekt die schlussendliche Entscheidungskompetenz hatte. Weil er alle Teilprojektmitglieder in ihrer Linienfunktion respektieren wollte, hatte er im Projekt niemandem den Entscheider-Hut aufgesetzt. Die Teilprojektmitglieder waren benannt worden, ohne dass vorher das Anforderungsprofil geklärt wurde. Der Programmleiter war nicht präzise im Ziel, in seinen Erwartungen an die Projektergebnisse und in seinen Umsetzungsauf­trägen gewesen. Aber er hatte vertraut, und so hatte das Teilprojekt die eigenen Lieferobjekte nach bestem Wissen und Vermögen definiert, abgestimmt, freigeben lassen und auch umgesetzt.

Und zum Glück wusste der Programmleiter um seinen blinden Fleck, denn er war ein intelligenter Mensch und hatte seine Prioritäten und seinen Führungsstil im Projekt bewusst entschieden.

Projektergebnisse als Teil der Auftragsklärung

Der Vorfall ist typisch. Ob als interner Projektleiter oder externer Consultant – man tut gut daran, zu Beginn des Projekts eine ordentliche Auftragsklärung zu machen: Was ist das Ziel? Wer ist der Auftraggeber? Wie wird mit dem Auftraggeber zusammengearbeitet? Wer entscheidet was? Wie wird über den Projektfortschritt rapportiert? Wie wird bei Abweichungen vom Ziel eskaliert? Wie wird das Projekt oder Teilprojekt gesteuert?

Auch dabei kann es einen blinden Fleck geben. Kann gut sein, dass zu Beginn des Projekts der Projektleiter mit einer Führungskraft zusammensitzt und denkt, alles sei klar. Man spricht über die anstehenden Themen und wie man sie angehen könnte, man freut sich auf die Aufgabe und ist voller guter Ideen und Absichten. Der Startpunkt ist gesetzt. Für den Moment ist alles gut.

Aber es ist eher die Regel als die Ausnahme, dass nach kurzer Zeit im Projekt alles anders ist. Grundsätzlich anders. Themen haben sich konkretisiert, fachliche Inhalte wurden geklärt, Erwartungen und Einflüsse von Stakeholdern haben sich geändert, die Methodik wurde geschärft. Auch die Ziele bleiben oft über längere Zeit beweglich – «moving targets» wie man im Englischen sagt. Genau diese Normalität im Projektgeschehen ist der Grund dafür, dass in IT-Projekten viel Wert auf «Change-Management» gelegt wird, womit nicht Veränderungsbegleitung und Transformation gemeint sind, sondern der systematische, oft ziemlich restriktive Umgang mit sich verändernden Anforderungen.

Insofern war auch mir der anfangs erwähnte Vorfall eine Lehre. Es nicht sinnvoll, sondern notwendig, Ziele schriftlich zu fixieren und schriftlich verabschieden zu lassen, Vorgehensweisen konzeptionell auszuarbeiten und zur Umsetzung freigeben zu lassen, Regeltermine für Prozesssteuerung im Verlauf des Projekts zu setzen und einzufordern, dass sei eingehalten werden. Damit alle Beteiligten unterwegs auf dem Laufenden bleiben und es bei Projektabschluss keine Überraschungen gibt.

Naja – wenn‘s einfach wäre, würden wir es alle so machen. Aber so ist das eben mit dem blinden Fleck: Wir gehen sehenden Auges damit um. So dass ein augenzwinkernder Umgang damit allen gut zu Gesicht steht.

Weiterführende Links in diesem Zusammenhang

Bildquelle: www.gograph.com