Haben Sie sich auch schon als Projektleiter oder Führungskraft gefragt, wie Sie die Komplexität ihres Verantwortungsbereichs in den Griff bekommen können?
Zurzeit beschäftigt mich das Thema in einem Projekt und lässt mich darüber nachdenken, inwiefern das Selbstverständnis von Führungskräften einen Einfluss darauf hat, ob und wie sie Komplexität in den Griff bekommen.
Anders gesagt: Es macht einen Unterschied, ob Führungskräfte über die Komplexität ihrer Aufgaben nachdenken und ob sie das vor, während oder nach dem Handeln tun.
Psychologie des Handelns in Komplexität
Das Managen von Komplexität erlebe ich als ein Schlüsselthema der Organisationsentwicklung. Tatsächlich umfasst Komplexität im psychologischen Sinne fast alles, was heute mit der knackigen Bezeichnung VUCA zusammengefasst wird und den Erfolg agiler Methoden begründet.
Dafür hat mir vor etlichen Jahren ein Seminar mit Prof. Dr. Harald Schaub die Augen geöffnet. Er ist Psychologieprofessor an der Universität Bamberg und Programmleiter für Human Factors und Mensch-System-Integration bei der IABG in Ottobrunn bei München. Seit vielen Jahren befasst er sich mit Themen rund um das Entscheiden und Handeln in Komplexität.
Seine Publikationsliste zeigt, dass sein Ansatz praktischen Nutzwert für alle Arten von Krisenmanagement hat, zum Beispiel in Notfallplanung, Bevölkerungsschutz, Systemsicherheit und Führung bei der Bundeswehr – natürlich auch in Unternehmen, sowohl in Problemlagen, aber auch im Zusammenhang mit Innovationsprozessen. Aber zunächst mal zu den Katastrophen…
Löschflugzeuge und Waldbrände
Man muss erlebt haben, was es bedeutet, zunächst an Komplexität zu scheitern und dadurch zu lernen, wie man sie in den Griff bekommen kann. Im Seminar mit Harald Schaub haben wir diese Erfahrung in Planspielen gemacht.
In einem Computerspiel haben wir einzeln versucht, Waldbrände mit Löschflugzeugen zu bekämpfen. Wir haben mit sportlichem Ehrgeiz losgelegt und auf schnelle Reaktionszeiten, die Fähigkeit, den Überblick zu behalten und auf unsere Tatkraft vertraut.
Am Ende des Spiels brannte es überall, Landschaften waren zerstört und Löschflugzeuge abgestürzt. Wir waren gestresst, überfordert und hatten versagt. Unsere Taktik für einfache Kausalzusammenhänge hatte nicht funktioniert. Stattdessen haben wir erlebt, dass wir nur dann Komplexität in den Griff bekommen, wenn wir unseren Umgang mit dem Unvorhersagbaren üben und reflektieren.
Buschvolk und Hungersnöte
Wie das in Geschäftsleitungen und Projekten auch geschieht, haben wir dann ein komplexes Thema in Gruppen bearbeitet. Wir sollten dem fiktiven Buschvolk der Moros helfen, das auf mageren Weiden kleine Rinderherden hält und mit Dürre und Wassermangel kämpft.
Anfangs lief das nach der Waldbranderfahrung besser. Wir haben überlegt, worauf es ankommt und wie wir es angehen. Nachdem wir ein gemeinsames Verständnis vom Zusammenspiel der Variablen hatten, haben wir Brunnen gebohrt, die Moros zur Schule geschickt und Rinder gezüchtet.
Entsprechend haben die Gruppen die Situation verbessert, allerdings ohne die Zukunft mitzuplanen. Die eine Gruppe hatte zu viele Brunnen angelegt und so das Grundwasser reduziert, was eine Dürrekatastrophe ausgelöst hätte. Die andere Gruppe hatte zu viele Rinder gezüchtet, für die weder Weideland noch Wasser reichten, was mittelfristig in eine Hungersnot geführt hätte.
Trotzdem waren wir in diesem Planspiel viel erfolgreicher und hätten in einem weiteren Durchlauf vermutlich eine funktionierende Balance aller relevanten Variablen erreicht.
Führungskräfte und Strategieumsetzung
Was wir unter Laborbedingungen erlebt haben, ist mit der Situation in Unternehmen vergleichbar. Viele erzeugen intern hohe Komplexität, denn ihre Umwelten sind permanent in Veränderung, ihre internen Strukturen oft kompliziert und ebenfalls in Bewegung. Damit gehen Führungskräfte unterschiedlich um.
Manche Manager sind stolz darauf, in einem komplexen Umfeld erfolgreich zu sein. Was nicht immer bedeutet, dass sie erfolgreich Komplexität managen. Eine zu selbstbewusste Haltung kann nämlich dazu führen, Situationen zu unterschätzen und operative Hektik auszulösen.
Folglich gibt es in den meisten Unternehmen permanent eine Vielzahl strategischer Initiativen, aber keine nachhaltige Veränderung der Lage. Alles sehr dynamisch und alle sehr busy, was im Ergebnis zu Langsamkeit oder anders gesagt: einem relativen Stillstand führt.
Komplexität in den Griff bekommen
Den Weg raus aus der Komplexitätsfalle findet nur die lernende Organisation. Sie entsteht, wenn Führungskräfte nicht nur darum bemüht sind, Dinge besser zu machen, sondern auch reflektieren, wie sie sich mit Themen auseinandersetzen, Problemlösungen entwickeln, Entscheidungen treffen und in der Umsetzung zu nachhaltigen Ergebnissen gelangen.
In den oben beschriebenen Computersimulationen bedeutet das Managen von Komplexität: nicht kopflos Feuer löschen, nicht einfach nur mehr Rinder auf die Weide bringen oder mehr Brunnen bohren, sondern das Zusammenspiel der Variablen verstehen und steuern.
Wenn der Wirkmechanismus des Problems klar ist, kann auch die Lösung entwickelt werden. Denn die Komponenten des Problems sind auch die Ansatzpunkte der Lösung.
Was bedeutet das konkret?
Für Unternehmen und Führungskräfte bedeutet das: nicht zu schnell loslegen, sondern kurz innehalten, ein gemeinsames Verständnis der Gemengelage entwickeln, ein Ziel setzen, sich für die wichtigen und dringenden Handlungsfelder entscheiden und nach dem Motto «first things first» Ergebnisse erzielen und wirksam im Ziel werden.
Im Handeln erfordert das: widersprüchliche Ziele ausbalancieren, das Vorgehen anpassen, das eigene Entscheidungsverhalten reflektieren und bei der nächsten Herausforderung noch besser und schneller die Komplexität in den Griff bekommen.
Diese Form des organisationalen Lernens fängt in der Führung an, und zwar dann, wenn Führungsteams nicht nur Dinge besser machen wollen, sondern auch immer besser darin werden wollen, Dinge zu verbessern.
Aus meiner Sicht ist das die reifste Form von Führung und Leadership-Alignment und ein übergeordnetes Ziel von Change-Prozessen. Wenn es funktioniert, sind das die Sternstunden der Beratungsarbeit, denn so entwickeln Unternehmen die Fähigkeit, aus sich selbst heraus die eigene Zukunftsfähigkeit abzusichern.
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Bildquelle: www.gograph.com